Ostertag/Mackinger (Hrsg.): der Zukunft entgegen. Auslesebeiträge von Mitgliedern der Gruppe 48 e.V. Mackingerverlag. Bergheim 2023. S. 67ff.

 

Erinnerte Visionen

 

 

 

Er blickte aus dem geöffneten Dachflächenfester. Gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, war heftiger Baubetrieb im Gange. In aller Frühe war er vom Baulärm geweckt worden. Die Mauern des Erdgeschosses des Einfamilienhauses gegenüber standen schon, gerade hievte ein Kran Fertigbetondecken auf die Rohbaumauern. Arbeiter riefen sich etwas zu, was er nicht verstand. Der Kran quietschte, die Drahtseile ruckten vernehmlich. Ein Lastwagen kam heran, der Fahrer stieg aus und ging auf einen Bauarbeiter zu. Der wies mit Hand die Straße entlang – offensichtlich suchte er eine andere Baustelle.

 

Er selbst und seine Familie waren die ersten gewesen, die hier im neu ausgewiesenen Neubaugebietes des 5000 Seelenmarkts gebaut hatte. Er war neugierig auf jeden neuen Nachbarn, ja er freute sich darauf. Mit diesem Hausbau hatten sich seine Frau und er in Wagnisse gestürzt: In erster Linie natürlich in ein finanzielles, dann aber auch in ein soziales: Gelänge der Sprung von der Stadt aufs Land? Was würde aus den Sozialkontakten, die in der Stadt so selbstverständlich gewesen waren?

 

Er weitet seinen Blick, ließ ihn über sein Gegenüber hinwegschweifen. Unmittelbar daneben unbebaute Grundstücke, teilweise vom Straßenbau zerwühlt, alle mehr oder weniger unkrautbewachsen. Hinter den Grundstücken dehnten sich die Felder aus: goldgelber Raps, frischgrüne Sommergerste und der Mais, gerade so aus dem Ackerboden spitzend. Wo sich das Gelände zum entfernten Bach hin senkte, der hinter dem schmalen Auwaldstreifens mehr zu erahnen war, war geradeso die alte Sägemühle erkennbar, den Bach selbst sah er nicht mehr. Dahinter am Horizont der Kiefernwald - schemenhaft durch den Frühnebel zu erahnen

 

 

 

Er blickte aus dem geöffneten Dachflächenfenster. Gegenüber, auf dem Parkstreifen stand das Hymer-Mobil des Nachbarn und mehrere PKW, alle ließen sich unschwer verschiedenen Nachbarn zuordnen. Das Hymermobil stand unmittelbar vor dem Gartentor des Nachbarn. Vom Garten und Haus gegenüber sah man nur den holzverkleideten Giebel, die meterhohe Hecke des bildete einen grünen Riegel und wies neugierige Blicke ab. Dafür war selbst von hier das Werbeschild auf der Garage zu lesen: Glaserei Franz Vogel, darunter die Leistungen des Betriebs und die Kontaktdaten. Rechts daneben ein Haus in gleicher Bauweise, derselbe Bauträger.

 

Er sah, wie sich die Gartentüre öffnete und die drei Kinder des Nachbarn gegenüber, ein zehnjähriger, kräftiger Junge und seine zwei jüngeren Schwestern, auf den Gehsteig traten und vorbildlich am Rand des Gehsteigs nach links und rechts sahen, um die Straße zu überqueren. Gleich würden sie an der Haustür klingeln und fragen, ob sie mit seinen zwei Söhnen, ungefähr im gleichen Alter, spielen könnten. Zusammen mit dem Nachbarjungen der Familie, die ihr Haus auf dem Grundstück über ihm gebaut hatten, waren sie in der Straße als die „kleinen Strolche“ bekannt – tatsächlich fiel ihnen viel ein, was nicht unbedingt auf das Entzücken der Anwohner stieß.

 

Zufrieden blickte er zu den Kindern hinunter, die gerade auf die Straße traten. Eigentlich war alles so gekommen, wie er es sich gewünscht hatte: Die Kinder wuchsen in einer freien, natürlichen Umgebung auf, zu manchem Nachbarn hatte man freundschaftliche Bande geknüpft, da war es nicht so bedeutend, dass andere Verbindungen abgerissen waren.

 

Er weitete den Blick, ließ ihn über sein Gegenüber hinwegschweifen. Hinter den Grundstücken dehnte sich die Felder aus: goldgelber Raps, frischgrüne Sommergerste und der Mais, gerade so aus dem Ackerboden spitzend. Wo sich das Gelände zum entfernten Bach hin senkte, der hintern dem schmalen Auwaldstreifens eher zu erahnen war, war geradeso die alte Sägemühle erkennbar, den Bach selbst sah er nicht mehr. Dahinter am Horizont der Kiefernwald.

 

Er blickte aus dem geöffneten Dachflächenfenster. Gegenüber, auf dem Parkstreifen stand das Hymer-Mobil des Nachbarn und mehrere PKW, alle ließen sich unschwer verschiedenen Nachbarn zuordnen. Das Hymermobil stand unmittelbar vor dem Gartentor des Nachbarn. Schon seit zwei Jahren war der Nachbar nicht mehr damit weggefahren. Vom Garten und Haus gegenüber sah man nur den holzverkleideten Giebel, die meterhohe Hecke des bildete einen grünen Riegel und wies neugierige Blicke ab. Auf dem Werbeschild auf der Garage war zu lesen: Glaserei Ronald Vogel, und darunter die Leistungen des Betriebs und die Kontaktdaten – der Sohn hatte die Firma von Vater übernommen. Ja. Auch seine Kinder waren aus dem Haus und neue Nachbarn über ihm eingezogen: Nach der Scheidung waren die alten, beinahe Freunde gewordenen Nachbarn, ausgezogen. Vom neuen Nachbarn sah und hörte man nichts. Dafür umso mehr vom Verkehr am neu gebauten, nahen Kreisel am Ortseingang.

 

Er weitete den Blick. Hinter dem Haus gegenüber das mäßig geneigte, aus roten Blechelementen gefügte Dach von EDEKA, das den Kreisel am Ortseingang verdeckte. Noch dahinter, gerade so zu sehen, der Flachbau von Lidl. Links am Rand spitzte das Autohaus Bauer gerade so hervor. Und hinter dem Kreisel, der sich erfolgreich versteckt hatte, eingeschossige containerartige Flachbauten, die einem Friseur und einer Fliesenfirma Unterschlupf gewährten.

 

Er weitete den Blick. Noch war er zu sehen, der Auwaldstreifen, wenn man auch wusste, dass hinter ihm und dem Bach das neue Gewerbegebiet in der Senke Platz gefunden hat. Und am Horizont gerade noch zu erkennende schüttere Kiefernwald.

 

Er blickte aus dem geöffneten Dachflächenfenster. Der Nachbar gegenüber war längst in die Stadt gezogen, das Haus sah grau und unwirtlich aus, die Jalousien im Erdgeschoss waren halb heruntergelassen, eines hing schief in den Schienen. Tatsächlich hing noch immer das verblasste Schild der Glaserei Vogel auf dem Garagentor. Wozu? Das Haus sah man nun ganz genau – keine Hecke schützte mehr vor neugierigen Blicken – aber wer hätte auch neugierig sein sollen? Der einstmals gepflegte Rasen hatte sich in eine Art Steppe verwandelt mit Disteln und Hartgräsern, er war dem Verbot des Gießens ebenso zum Opfer gefallen wie die Hecke, sein eigner Garten sah nicht viel anders aus. Was sollte man machen? Seit nicht einmal mehr die Hälfte der üblichen Niederschläge fiel und sommerliche Temperaturen häufig 40 Grad erreichten, musste man Wasser sparen. Er dachte an die Zeit, als man bedenkenlos duschen konnte, als er den Rasensprenger stundenlang laufen ließ, unter dem sich die Enkel vergnügten. Dahin, dahin. Wütend war er schon lange nicht mehr, aber wehmütig- traurig.

 

Ach, wenn es wenigstens nicht so still wäre! Wie hatte er über den Verkehr, den Lärm der Fahrzeuge geschimpft. Er hatte sogar eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen, um den Verkehr aus seiner Straße zu verbannen. Heute müsste man ihn für verrückt erklären. Viele hatten damals das Vorhaben unterstützt, schließlich hatten viele kleine Kinder. Und jetzt? Kinder in seiner Straße - Fehlanzeige. Und heute brauchte man auch keine Angst mehr um die Kinder zu haben. Die Autos waren so programmiert, dass selbst ein unvorhergesehenes Ereignis sie ohne menschliches Zutun zum Stehen brachte. Das war schon deshalb notwendig, weil man die heutigen Elektroautos praktisch nicht mehr hörte. Es war eben alles still. Furchtbar fand er und wunderte sich, wie er früher hatte anders denken können.

 

Ungern weitete er den Blick. Hatte er früher über das Einkaufszentrum hinweg auf die – schon damals Restnatur-schauen können, so wurde ihm das nun verwehrt. Hintern der Häuserzeile erhob sich nun ein dreistöckiger Klotz, ein fensterloser Flachbau. Mit einer kolossalen Isolierung versehen sperrte man das Innere des Gebäudes von Kälte und Wärme aus und suchte so Energie so gut wie möglich zu sparen. Alle Läden und Geschäfte befanden sich nun in einem Haus. Er ging nicht gern dorthin, musste aber wohl bisweilen, auch wenn er sich immer häufiger den täglichen Bedarf durch den Discounter liefern ließ. Im neuen Geschäftsbau gab es kaum mehr Personal: das Beschicken der Regale, selbst die Information wurde von intelligenten Robotern erledigt. Er erinnerte sich, dass er gerne Einkaufen gegangen war. Erst heute kam ihm zu Bewusstsein warum. Es waren die Gespräche mit Nachbarn und Bekannten, die man beim Einkaufen traf. Belanglos zwar, die Unterhaltungen, aber aus heutiger Sicht? Und dazu noch die gelegentlichen Frotzeleien mit den Angestellten des Supermarkts – er lächelte schmerzlich, als er daran dachte.

 

Eigentlich war es nicht schade, dass ihm der Kommerzbau nun den Blick auf die Landschaft ganz verwehrte. Die alte Sägemühle gab es schon länger nicht mehr, ebenso wenig wie den Bach, an dem sie gelegen war. Das heißt, das Gebäude der Sägemühle existierte noch, oder das, was von ihr übrig war: ein vor sich hin bröselnder Sandsteinbau - aufgegeben, in Bälde würde er wohl verschwunden sein.

 

Verschwunden wie schon Jahre zuvor der Auwald mit seinen Zitterpappeln und Erlen, nichts mehr übrig, nach dem Bach vertrocknet. Wie sein Garten und sein Leben.

 

 

 

 

 

 

Fazit meiner beruflichen Tätigkeit

 

 

 

Das Jubiläum – eine nie gehaltene Rede eines scheidenden Schulleiters

 

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

wie viele schöne, überaus lobende Worte sind heute gesprochen worden. Ich kann mich geehrt fühlen als äußerst erfolgreiche, umgängliche, beliebte und verehrungswürdige Person. 40 Jahre Dienst sind ja eine lange Zeit und es trifft sich glücklich, dass ich mit diesem Jubiläum gleichzeitig aus dem Schuldienst scheiden werden. Und so muss es auch eine Freude sein, von Schülern, Lehrern und Dienstaufsicht mit warmen Worten in den Ruhestand entlassen zu werden. Und die, die mich – wie gesagt – mit so vielen dankenden Worten bedacht haben, erwarten nun traditionsgemäß eine entsprechende Antwort vom Jubilar.

 

Die sollen sie auch erhalten.

 

„Ich bin in der Tat ein einzigartiges Wesen. Werde ich nicht überall gut aufgenommen? Schenken mir nicht die bedeutendsten Köpfe ganz besondere Beachtung? Ich habe eine edle Seele, die immer wieder zum Vorschein kommt, ein gewisses Maß an Kenntnissen, alle möglichen Einfälle, einen originellen Humor und eine ebensolche Ausdruckweise; dazu eine bemerkenswerte Menschenkenntnis.“

 

Ist leider nicht von mir, trifft aber augenscheinlich nach den bisher gehörten Reden auf mich zu. Es ist von dem englischen Dichter James Boswell (1740- 1795), dem es offensichtlich nicht an Selbstbewusstsein gefehlt hat. Nur, wenn ich das Obige über mich selbst sage, wiederhole ich zwar sinngemäß die Worte meiner Vorredner, die Zuhörer werden aber die Nase rümpfen ob solcher Selbstgefälligkeit. Dann jedoch wäre das vorher Gesagte nun doch nicht so ganz wahr, wäre ein ganzes Stück Schmeichelei? Aber: „Lügen, falsche Moral und Heuchelei sind die drei Dinge, auf die ich am leichtesten verzichten kann“ sagt der Dichter Horst Bulla. Und ich auch.

 

So will ich mich auch nicht für die Würdigung meiner unbedeutenden Person bedanken, sondern vielmehr für die Gewinnung von Erkenntnissen, von strukturellen Lebenseinsichten, die mir durch die mannigfaltigen Begleiter meines beruflichen Lebensweges vergönnt wurden.

 

Vieles könnte ich sagen über die Änderungen im Schulwesen, die mir da im Laufe der Jahre begegnet sind: lernzielorientierter Unterricht, schülerorientierter Unterricht, handlungsorientierter Unterricht, wissenschaftsorientierter Unterricht, Heimatorientierung, Berufsorientierung, erweitere Berufsorientierung, besondere erweiterte Berufsorientierung, Inklusion, Interaktion, Transparenz, Kommunikation, Volkschule, Hauptschule, Mittelschule, Ganztagesschule, Schulverband, Schulverbund usw., Schlagwörter, deren Halbwertszeit mit Zunahme meiner Dienstjahre eine exponentielle Beschleunigung erfahren haben.

 

Und so rufe ich der hier vorsitzenden Schulaufsicht zu: Danke, dass man mir zu einer strukturellen Erkenntnis verholfen hat, nämlich zu der, wie eine Reform funktioniert: Man nehme einen Regierungsbeamten im Kultusministerium, am besten aber mehrere, und dabei solche, die eine Schule das letzte Mal als Schüler gesehen haben, und beauftrage sie mir einer Reformidee für das Schulwesen, deren Gedanken durch lobbyistische Einflüsterungen entstanden und durch das Einverständnis des Finanzministeriums abgesichert worden sind. Dann werden Schulen herausgesucht, an denen man diese Reform als Modell erprobt. Das sind solche, deren jeweiliger Wahlkreisabgeordneter den besten Draht zum Kultusministerium hat. Die betreffenden Schulen schütte man mit Ressourcen dafür zu: vor allem mit Lehrerstunden, aber auch finanziellen Mitteln. Weil die Reform soll ja nicht scheitern. Und stellt nach einem Jahr fest, wie ausgezeichnet die Reform funktioniert - was man schon vorher gewusst hat, ja hat wissen müssen, weil ein Ministerium keine Fehler macht. Jetzt kann und muss man natürlich die Reform flächendeckend einführen, nur die dafür notwendigen Ressourcen der Modellschulen stehen natürlich für alle nie zur Verfügung – das sei das Finanzministerium vor. So berichtet man im Laufe der nächsten Schuljahre über die besagte Reform zusehends weniger, bis die nächste Reform in gleicher Weise vonstattengeht. Dies ist eine profunde Erkenntnis und noch dazu hat sie mir die Wahrheit eines Lexikonartikels aus dem Jahr 1894 aufgezeigt, die die Triebfeder, ja das philosophische Fundament solchen Vorgehens beschreibt:

 

„Büreaukratie (franz.-griech., „Schreibstubenherrschaft“), Bezeichnung für eine kurzsichtige und engherzige Beamtenwirtschaft, welcher das Verständnis für die praktischen Bedürfnisse des Volkes gebricht. Auch eine solche Beamtenschaft und ihre Angehörigen nennt man Büreaukratie. Der Boden der Büreaukratie ist der Absolutismus.“ Meyers Konversationslexikon von 1894

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen. Und solch ein Treiben spielen wir ein Schulleben lang mit. Allerdings, nicht ohne im Lehrerzimmer zu schimpfen, zu zetern, Ministerium und Schulaufsicht zu verwünschen. Und die Schulleitung zu fragen, ob man sich das alles gefallen lassen müsse. Wobei der Schulleiter mit den Schultern zuckt. Weil die höchste Tugend des Beamten ist die Loyalität, wo käme man da sonst hin.

 

Nur, was im Klassenzimmer wirklich geschieht, entgeht leider oder gottseidank der Kontrolle, wie man dies auch immer versucht. Das ist nun eine weitere tiefe Erkenntnis, oder eher zwei:

 

Erstens: Der Lehrer oder die Lehrerin macht sowieso nur das, was sie persönlich für sinnvoll hält und hat mannigfache Möglichkeiten den Anschein zu erwecken, dem neuesten Stand der s.g. Reform zu entsprechen.

 

Zweitens: Der Lehrkörper neigt dazu, in der inneren Emigration zu verharren, Protesten oder gar Revolten ist er abhold. Da muss es schon knüppeldick kommen.

 

Und schon haben wir das Dilemma erkannt. Da der Lehrer aus langer Erfahrung weiß, dass von „Oben“ selten etwas Sinnvolles kommt – in der Regel mehr Arbeit – steht er jeder Reform von vorne herein skeptisch gegenüber. Er ist ja auch nicht gefragt worden. Und vom Protestieren hätte er nur Nachteile zu erwarten – siehe Loyalitätsprinzip. Und so scheitern auch die wenigen sinnvollen Reformen fast zwangsläufig.

 

Dafür hat die Mehrzahl unserer Kolleginnen und Kollegen einen Leitsatz, bisweilen unbewusst, der heißt: „Beziehung kommt vor Lernen“. Soll heißen: Sie kümmern sich um ihre Schüler und Schülerinnen, um Ihre Befindlichkeiten, um ihr seelisches Gleichgewicht und dann natürlich um ihre kognitive Förderung.

 

Wie sagt der Literaturwissenschaftler Otto Weddigen (1851-1940) zu Recht: „Auf die Persönlichkeit des Lehrers kommt alles an. Der Wert aller Methoden und Verordnungen ist zweifelhaft.“ Eine Erkenntnis, die mich mein Berufsleben gelehrt hat. Allerdings hat mich dieses auch zu der Erfahrung gebracht: Aus vielen Schüler, die wir als hoffnungslose Fälle entlassen haben, ist doch noch etwas geworden und andere, die mit den besten Zensuren die Schule verlassen haben und zu den kühnsten Hoffnungen berechtigten, sind später kläglich gescheitert. Dies wegen oder trotz der Schule? Man weiß es nicht. Also bleibt die Erkenntnis: Schule ist wichtig, aber nicht das einzig Bestimmende für das Erwachsenenleben.

 

Mit dieser tröstlichen Einsicht darf ich mich nun verabschieden, mit einem durchaus weinenden und lachenden Auge.

 

Wollen wir uns nun dem kalten Buffet zuwenden. Wie sagt der Volksmund: „Schmeicheleien kommen weniger aus vollem Herzen als aus leerem Magen.“

 

 

 

 

Corona-Haiku

 

 

1

Mo., 30.3.


Wann Corona kommt,

wann Corona kommt, wer weiß?

Ob er heute kommt

 

oder morgen kommt

oder vielleicht gar nicht kommt?

Wann Corona kommt, wer weiß!

 

2

Di., 31.3.

 

Ein Döner Imbiss

hat für den Feinschmecker

jetzt gut einen Stern.

 

3

Mi., 1.4.

 

Corona heißt auch

 -lateinisch- Heiligenschein.

Welch´ ein Aprilscherz!

 

4

Do., 2.4.

 

Wer hätte gedacht,

dass das Vermummungsverbot

sich zur Pflicht wandelt!

 

5

Fr. 3.4.

 

Keinen Hefezopf

gibt es jetzt mehr zum Kaffee.

Esst mehr Blätterteig!

 

6

Sa. 4.4.

 

Zwei Ringeltauben

in vorbildlichem Abstand

picken im Garten.

 

7

So. 5.4.

 

Palmwedel schwenken,

eng an eng am Straßenrand

heute verboten.

 

8

Mo. 6.4.

 

Steckt euch ruhig an,

sogar exponentiell,

mit guter Laune

 

9

Di. 7.4.

 

Orangen spickt man

mit Nelken des Dufts wegen.

Bitte jetzt lassen!

 

 

10

Mi. 8.4.

 

Systemrelevanz

ist schwer zu beurteilen:

Hoch die Poesie!

 

11

Do. 9.4.

 

Liegen auf Bänken,

Sonnenbaden auf Wiesen,

machen wir trotzdem!

 

12

Fr. 10.4.

 

Mensch, ärgere dich!

Nicht! Das ideale Spiel

zur Coronazeit!

 

13

Sa. 11.4.

 

Duftender Weißdorn,

ein Hauch grün am Strauch, sagt uns:

Aufbruch trotz Allem!

 

14

So. 12.4.

 

Eier verstecken

kann jeder. Wir an Ostern

verstecken uns selbst.

 

15

Mo. 13.4.

 

Viraler Effekt:

Alle glauben selbst Dinge,

die sie nicht sehen.

 

16

Di. 14.4.

 

Ostern ist vorbei:

froh? einsam? lustig? traurig?

zumindest anders!

 

 

17

Mi. 15.4.

 

Entspannung total!

Verdauung neu aufnehmen!

Es gibt Klopapier.

  

18

Do. 16.4.

 

Ich nehme ein Bier

und setzt mich ganz allein

in den Biergarten.

 

 

19

Fr. 17.4.

 

Ein neues Hobby:

Wir designen Mundschutze.

Demnächst Ausstellung!

 

19

Sa. 18.4.

 

Wer jetzt kein Haus hat

baut sich keines mehr: Auf! Auf!

Baumärkte offen!

 

20

So. 19.4.

 

Such dir jemanden

heut´ zum Sonntagsspaziergang.

Die Wahl ist heikel.

 

21

Mo. 20.4.

 

Vom Zwange befreit

sind Bau- und Gartenmärkte.

Jauchzet groß und klein!

 

22

Di. 21.4.

 

Die Kaiserkrone

blüht heuer besonders schön.

Wegen Corona?

 

23

Mi. 22.4.

 

Wo sollen wir nur hin

im September zum Saufen?

Kein Oktoberfest!

 

24.

Do. 23.4.

 

Jetzt wird es mystisch:

Geister spielen nun Fußball?

Was Corona schafft!

 

 

25.

Fr. 24.4.

 

Der Mai steht ins Haus

und wir bewegen uns doch

noch auf dünnstem Eis.

 

26

Sa. 25.4.

 

Welch neuer Schweinskram:

die „Lockerungsorgie“!

Und das mit Mundschutz!

 

27

So. 26.4.

 

Wieder Gottesdienst:

Nur leises Singen erlaubt!

Laut bleibt verboten.

 

28

Mo. 27.4.

 

Gesicht hat jeder.

Zu sehen, welches er macht,

leider unmöglich.

 

 

29

Di. 28.4.

 

Der Raps blüht gelber,

die Vögel singen lauter,

nicht alles ist schlecht.

 

 

30

Mi. 29.4.

 

Stimmt es, dass der Mensch

die Krone der Schöpfung ist?

Habe da Zweifel.

 

31

Do. 30.4.

 

In den Ferien

werden wir wohl die Heimat

wieder entdecken.

 

 

32

Fr. 1.5.

 

Keine Maidemos,

viele wünschen sich Arbeit.

vervirrte Zeiten!

 

33

Sa. 2.5.

 

Respirator statt

Panzer, Mundschutz statt Stahlhelm.

Schön wäre es schon!

 

34

So. 3.5.

 

Maipicknick im Park -

Notfalls heißt es: „Weg vom Tisch!“

Gäste unerwünscht.

 

35

Mo. 4.5.

 

Wann darf wer wohin

weshalb und mit wie vielen?

Antworten, bitte!

 

36

Di. 5.5.

 

Haarnotstand vorbei!

Friseure schaffen montags

nur nach Anmeldung.

 

37

Mi. 6.5.

 

Jetzt ist es soweit:

Die Großeltern besuchen.

Welch eine Freude!?

 

38

Do. 7.5.

 

Aus langem to go,

wird langsam wieder to sit.

Aber mit Abstand!

 

39

Fr. 8.5.

 

Noch starren wir stets

wie die Maus vor der Schlange

auf Covid-Zahlen.

 

40

Sa. 9.5.

 

Ein schlimmer Virus

sind die Verschwörer von Rechts.

In Quarantäne!

 

41

So. 10.5.

 

In Schlachtereien

gibt es üble Zustände.

Corona deckt´s auf!

 

42

Mo. 11.5.

 

Man wünscht nichts Schlechtes:

Corona-Demonstranten

muss man nicht lieben.

 

43

Di. 12.5.

 

Statt einskommanull

einskommaeins. Ein Zehntel

erlangt Bedeutung.

 

44

Mi. 13.5.

 

Minister Herrmann:

Im Gasthof essen erlaubt

bald ohne Mundschutz!

 

45

Do. 14.5.

 

Heilig´ Corona

Bitte für uns lieber nicht.

Nützt scheinbar nicht viel.

 

46

Fr. 15.5.

 

Wer hat Schuld? Einer!

Bill Gates pflanzt allen Chips ein!

Macht Corona blöd?

 

 

47

Sa. 16.5.

 

Krankenhaus jammert,

weil so viele Betten frei.

Ist das nicht pervers?

 

48

So. 17.5.

 

Mit Corona gibt´s

Gemeinwohlökonomie

Wer mag es glauben?

 

 

49

Mo. 18.5.

 

Corona belebt

das Autokino wieder.

Ein Kulturvirus?

 

 

50

Di. 19.5.

 

Platz Im Biergarten

wird zugeteilt. Bier gibt es

auf Voranmeldung.

 

51

Mi. 20.5.

 

Freut euch! Den Urlaub

will Söder begutscheinen.

Gilt nur für Bayern!

 

 

52

Do. 21.5.

 

Bierfass im Karren,

einer zieht, einer schiebt,

Vatertag zu dritt.

 

53

Fr. 22.5.

 

Corona deckt auf:

Übles in Schlachtereien.

Keiner hat´s gewusst?

 

54

Sa. 23.5.

 

Neues Längenmaß

für einskommafünf Meter:

Jetzt ein Corona.

 

55

So. 24.5.

 

Beinahe alle

könnten getestet werden.

Doch nicht, denn:  Wer zahlt?

 

56

Mo. 25.5.

 

Party in Erfurt!

Alles wie vor Corona!

Auf nach Thüringen!

 

57

Di. 26.5.

 

Sehr viel weniger

besuchen die Arztpraxen.

Macht covid gesund?

 

 

58

Mi. 27.5.

 

Was ist gefährlich?

Gaststätten, Gottesdienste.

Seltsame Mischung!

 

59

Do. 28.5.

 

Weg mit dem Mundschutz:

Anti-Hygiene-Demo.

Schon allein das Wort!

 

60

Fr. 29.5.

 

In der AFD:

Spaltseuche ausgebrochen.

Gern bis Exitus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Haikus, veröffentlich in:

 

Bei aller Liebe . . .

 

herausgegeben von Ingo Cesaro.

Neue Cranach Presse Kronach. Kronach 2016

 

Die Scheiben hinab

rinnt der Regen beständig.

Macht mir die Welt trist.

 

Vorsichtig und zart

geben Knospen im Frühling

mir neue Hoffnung.

 

Flüchtlinge suchen

Hilfe, Trost im reichen Land.

Finden Angst und Hass.

 

Reiche bleiben reich,

weil Arme ärmer werden.

Ohnmacht macht sich breit.

 

Literarisches regelmäßig in:


http://www.fuerther-freiheit.info/

1. Preis

beim 1. Fränkischen Literaturpreis: fränkisch - frech - frei

 

am 15.10.2016 in Sonnefeld-Gestungshausen

Iatros Verlag und Coburger Autorengruppe Schreibsand

 

für die Kurzgeschichte:

Bescherung am Heiligen Abend oder die gute Tat des Georg Galster

Der Nürnberger Busfahrer Georg Galster hatte seinen Dienst am Heiligen Abend beendet. Schon während seiner Frühschicht hatte es ihn heftig gedürstet, gleichzeitig bemerkte er an einem ersten Kratzen im Hals, gelegentlichen Hustenanfällen und vermehrtem Verbrauch von Papiertaschentüchern, dass eine Erkältung, wenn nicht gar eine Lungenentzündung herannahte. Seine Laune sank deshalb im Laufe des Tages bedenklich, so dass er – heftig nach Dienstschluss strebend – Haltestellen überfuhr, an denen nicht eindeutig genug ein wartender Passagier auszumachen war. Gelegentlich dem Bus hinterherhechelnde Personen quittierte er – in den Rückspiegel blickend – mit einem finsteren Lächeln. Überhaupt gingen ihm diese bepackten Menschen mit ihren gehetzten Gesichter in seinem Bus unglaublich auf den Nerv, so dass er sich mehrmals veranlasst sah, in sein Mikrophon: „Machens doch die Tür frei, dou kummd ja kanner naus und nei!“ zu brüllen. Am liebsten hätte er „Scheiß Weihnachten“ gesagt, besonders wenn er an die bevorstehende Bescherung im Familienkreis dachte. Er hasste Kartoffelsalat, vor allem aber Wiener Würstchen und er hasste dieses Gesinge vor dem Weihnachtsbaum mit Frau und seinen beiden Kinder und ansonsten freute er sich nicht im geringsten an weiteren Krawatten, Schals oder irgendwelchen CDs, die seine Frau eher wohl für sich kaufte. Direkt ein Horror aber war ihm der stundenlang drohende Anblick seiner Schwiegermutter, die mit ihrer süßlichen Stimme auf seinen beiden Kindern herumtätschelte, ihn mit abschätzenden Blicken musterte und seiner Frau vielsagende Blicke zuwarf, wenn das Gespräch in irgendeiner Weise auf seine Person kam.

Georg Galster war also von echter Weihnachtsstimmung erfüllt, als er nach Beendigung seines Dienstes über die Museumsbrücke eher unwillig dem trauten Familiennest in der Sebalder Altstadt zustrebte.

Er machte sich schon innerlich bereit, sich mittels Ellenbogenhilfe durch den Christkindlesmarkt zu quetschen, da gewahrte er auf der Museumbrücke ein Schild: „Glüh-Alm. Bis Heilig Abend täglich open end.“ Georg Galster war ein verantwortungsvoller Mann. Er wollte nicht als Kranker nach Hause kommen und seinen Familienmitgliedern als Bazillenschleuder begegnen. Folgerichtig strebte er festes Schrittes diesem gesundheitsfördernden Etablissement zu, um seine kränkliche Konstitution mit heißen Getränken zu stählen. Mit Befriedigung bemerkte er schon beim Öffnen der Tür, dass dieser Ort zu seiner Gesundung unbedingt beitragen konnte, befand man sich doch in gehobener Stimmung. Einige Damen und Herrn tanzten zu „Hey, wir wollen die Eisbärn sehn´“, wobei fast alle den Refrain mitgrölten oder zumindest mit ho ho einstimmten, da sie sich den Refrain offensichtlich nicht mehr merken konnten. Georg Galster drängte sich durch die ausschließlich gut gelaunten Gäste bis zur voll besetzten Theke durch, an denen fast nur Männer lehnten. Als aus den Lautsprechern: „Du hast den schönsten Arsch der Welt“ dröhnte, steigerte sich Georg Galsters Weihnachtsstimmung gewaltig, war es doch eines seiner Lieblingslieder.

Georg Galster quetschte sich zwischen zwei Männern an der Theke. „Na, Na“, brummte der rechte Nachbar. „Nix für ungut“. Georg Galster wollte keinen Streit. „Ja, suwoos, der Gerch!“, tönte es zurück. Tatsächlich, da stand doch der Kollege Fritz Wehner, der in Fürth wohnte und mit dem er sich ab und an im „Grünen Automaten“ in Fürth traf. „Wäi kummsdn du douher?“ fragte er folgerichtig. „No, ich hobb nu ä boor Weihnachdsgschenge eikaafn mäin und no binni schnell dourei, weil´s mi gfruhrn hodd.“ Georg Galsters Stimmung hob sich erneut. Zu zweit konnte man doch angenehmer gegen Krankheiten ankämpfen. Geteiltes Leid sozusagen. Außerdem war er ein kommunikativer Mensch. „Der nächsde Glühers gäih aff mei Rechnung. Iich hobb obber ned lang Zeid. Iich mou hamm zur Bescherung.“ kündigte Georg an.

Die Beschaulichkeit des Lokals, die heimelige Atmosphäre und nicht zuletzt das weihnachtliche Liedgut hielten die beiden Freunde jedoch länger gefangen, als sie sich vorgenommen hatten. Nachdem sie inzwischen sechs Glühwein konsumiert hatten, welche sie mit der entsprechenden Anzahl von Willis garniert hatten, um einer Magenverstimmung wegen des süßen Zeugs vorzubeugen, schaltete Georg Galster sein Handy aus, weil ihn dieses mit penetrantem Klingeln aus seiner Weihnachtsstimmung zu reißen versucht hatte. „Däi wern schon nu ä bissler wardn kenner.“, bemerkte er zu seinem glühweinseligen Kumpel.

„Feliz navidad.“ tönte es. Der linke Nachbar von Georg Galster sang mit voller Stimme mit: „Feliz Navidad , Feliz Navidad, Feliz Navidad, Prospero Ano y Felicidad.“ „No, du konnsd obber goad italienisch“, sagte Georg bewundernd. „Nicht italienisch, spanisch“, korrigierte der Sänger. „Bin Ramos. Spanier. Aus Barcelona.“ „Ach su. Sooch ämool. Feierd ihr an Weihnachdn su wäi mir? Als Familienfesd?“ Ramos, glücklich zwei solch interessierte Gesprächspartner gefunden zu haben, begann ausführlich über die spanischen Weihnachtsbräuche zu erzählen und befeuerte dabei seinen Gesprächsfluss und die Zuhörbereitschaft der Kumpane mit weiteren Glühwein/Willi Einheiten.

Schließlich kamen die drei Freunde überein, dass es nun doch an der Zeit sei, die vorbescherliche Feier aufzuheben. Ramos hatte es damit nicht allzu eilig, da seine Frau sowieso in Barcelona saß und er erst am nächsten Tag dorthin fliegen wollte. Die drei neuen Freunde hakten sich also gegenseitig unter und verließen beseligt die Lokalität, wobei sie sich noch beim Absingen des tiefgründigen Stücks: „Wir wolln die Möpse sehn´“ beteiligten. Auf der Straße trat eine gewisse Ernüchterung ein: Es war kalt und fing an zu schneien. „Edz is ä richtigs Weihnachdswedder“, bemerkte Fritz. „Iich glaab, edz moui doch langsam hamm.“ Er verabschiedete sich an der Museumsbrücke und strebte der U-Bahnstation Lorenzkirche zu.

„Eigendli moui aa hamm.“ meinte Georg mit schwerer Zunge. Offensichtlich vertrugen sich die Getränkeeinheiten nicht mit der frischen Luft. „Wir können gehen miteinander“, schlug Ramos vor. Also schwankten die beiden Rauschengel Richtung Hauptmarkt, um der Sebalder Altstadt zuzustreben. Leider hatte ihnen das Winterwetter so zugesetzt, dass sie am Glühweinstand der Altstadtfreunde nicht vorbeikamen. „Ä Absagger gäihd scho nu,“ schlug Georg Galster vor und lud seien neuen Freund auf einen Erwärmungstrunk ein – was nicht ohne Gegeneinladung blieb. Schließlich bemerkte Ramos: „Wartet nicht Familie?“ und Georg Galster besann sich darauf, dass er ja noch gewisse Heilig-Abendpflichten zu erledigen hatte. „Gemmer. Däi wern eh scho sauer sei.“ Die beiden verließen nun nicht mehr ganz so beschwingt den Christkindlesmarkt und suchten möglichst Karambolagen mit Passanten, Laternen, Papierkörben und sonstigen Hindernissen zu vermeiden. „Ich wass ned, iich glaab, iich wer doch krank. Mir is scho ganz schwindli.“ meinte Georg Galster und fasste seinen neuen Freund fester am Arm. „Obber edz simmer ja glei derhamm.“ Man hatte inzwischen die Schildgasse erreicht, wo Georg Galster im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses wohnte.

Dort quengelten die Galsterschen Kinder schon seit geraumer Zeit: „Wo bleibt denn der Babba? Wann issnern Bescherung?“ Kartoffelsalat und Würstchen hatte man schon verzehrt und dem Papa eine Portion aufgehoben. „Wenn nur nichts passiert ist.“ meinte Frau Galster zu ihrer Mutter. „Des konni dir scho ssonng, woss dou bassierd is. Dess kennermer scho.“ antwortete die giftig. Frau Galster seufzte. Auch ihre Erfahrungen waren ähnlich gelagert. Sie stand auf und schaute zum Fenster hinaus. „Ich glaab, edz kummder! Oh waia!“ Auch die Schwiegermutter gesellte sich ans Fenster. „Dou hossders widder. Immer desselbe. Bsuffn. Allmächd, der hodd ja nun an derbei!“

Georg Galster stand vor der Haustür und sah Ramos traurig an. Er wurde von weihnachtlicher Sentimentalität übermannt und fiel seinem neuen Freund weinend um den Hals. „Dassi iich dich kennerglernd hobb, is mei scheensdes Weihnachdsgschengg!“ Er drückte Ramos an seine Brust. „Wassd woss. Du hossd doch kann. Du bisd doch ganz allans!“. Georg Galster schniefte ob dieses Unglücks tief auf. Und heiligabendliches Gutmenschentum griff von im Besitz. „Du gäihsd edz miid zu mir. Damid du aa ä Weihnachdn hossd. Dou werdsi mei Familie freier, wenni suern neddn Gasd miidbring.“ Und schon schleppten sich Georg und Ramos die Treppe hinauf, die Arme gegenseitig um die Schultern gelegt und darauf achtend, das Gleichgewicht nicht durch asynchrone Fußbewegungen zu gefährden.

An der Wohnungstüre standen bereits Frau, Kinder und Schwiegermutter. „Edz is der Babba dou. Edz kennermer bescheern!“ rief der kleine Kevin begeistert.

„Das ist der Ramos.“ Angesichts gewisser Ausspracheschwierigkeiten sprach Georg langsam und deutlich. „Schdelld eich vor. Der is heute ganz allaans. Am Heiligen Abend! Ganz allaans.“ Er wischte sich über die Augen. „Darum hab ich ihn miidgnummer, damid er bei uns miidfeiern konn. An Weihnachdn soll mer ned nur an sich selber dengn.“ Und schon zerrte er Ramos, dem das Ganze nun doch spanisch vorkam, in den Flur hinein. Die Ehefrau hatte ob dieser guten Tat Tränen der Rührung in den Augen, während die Schwiegermutter zu ihrer Tochter giftete: „Edz bringder am heilign Ohmd a nu seine Saufkumbaner miid. No frohe Weihnachdn!“

 

Die Kurzgeschichte "Der O-Krieg" erreichte beim 4. Landschreiber-Wettbewerb des Instituts für Sondersprachen einen 3. Platz, verbunden mit einer Woche Schreibwerksatt auf einer Frieschen Insel.

 

Der O-Krieg

Das O konnte und wollte es nicht länger dulden. In seiner elementaren Existenz unter den Buchstaben negiert und unter der Mittelmäßigkeit seines Platzes leidend, hatten sich Ärger und Wut bei ihm zu einem Komplex entwickelt.

Niemand - so brodelte es in ihm - erkannte seine wahre Bedeutung, niemand erwies ihm die ihm zustehende Achtung. War es nicht schon äußerlich der perfekteste aller Buchstaben - beinahe ein Kreis? Ein Kreis, bei dem End- und Anfangspunkt in der Unendlichkeit zusammenfallen, das christliche Omega, ein Symbol des ewigen Werdens und Vergehens? Waren nicht schon seine perfekte Form, seine wohlbeleibte Harmonie, die Ausgewogenheit von Umfang und Fläche Faktoren, die es weit über alle anderen Buchstaben erhoben? Mit welcher Begründung beanspruchte das eckige, ungelenke A die erste Stelle in der Folge der Buchstaben? Es war geradezu peinlich, zwischen dem staksigen N und dem unentschiedenen P, einer Missgeburt aus gerader Linie und nachgeäfftem halben O, stehen zu müssen: zur Mittelmäßigkeit zwischen unbedeutenden Subjekten verdammt.

Und hatte es nicht unter den Vokalen die erste Stelle zu beanspruchen – über die klanglosen Konsonanten lohnte es sich nicht, überhaupt ein Wort zu verlieren. Gab das O nicht Wörtern wie Pharao oder Tenno ihre herrschaftliche Berechtigung? Und hatte es nicht im Laufe der Jahrhunderte das Wirtschaftsleben geprägt von Giro bis zum Euro? War es nicht der geistige Katalysator in Begriffen wie Philosophie, Logik, Theologie, ja selbst Gott war ohne seine Mitwirkung nicht zu denken. Ja, gäbe es nicht ein Ohr, wäre die menschliche Kommunikation unmöglich.

Solche Gedanken gingen dem O nicht mehr aus dem Kopf. Die Minderbeachtung seiner semantischen und phonetischen Bedeutung wurden ihm mehr und mehr zu einer Zwangsvorstellung, ließen es in manisch-depressive Zustände verfallen. Verstärkt wurde diese Obsession dadurch, dass das O auf mundartlich gebrauchte Wörter zu achten begann, die offensichtlich seiner unterdrückten Wichtigkeit eine eigene, wenn auch unbewusste, Wertschätzung entgegenstellten. Sprach man im Fränkischen nicht von „Mo“ statt „Mann“, sagte man nicht „do“ statt „da“, „ich konn“ statt ich „ich kann“? Noch offensichtlicher war dies im Niederbayerischen, man konnte es sogar auf politischer Bühne vielfach bemerken: Das a als Inlaut wurde beinahe in allen Wörtern durch das o ersetzt. Und so war es für das O beinahe eine Offenbarung, als es die Rede eines niederbayerischen Politikers zu Ohren bekam: „Natürlich dauern die Osylverfahren zu longe“, sagte dieser. „Nach drei Monaten müssten die Fölle entschieden sein. Das Personol beim Bundesomt für Migration reicht aber bei Weitem nicht aus, um dieses Ziel zu erreichen. Do wird an der folschen Stelle gesport.“

Und da das O über einen analytischen Verstand verfügte, blieb nur der einzige Schluss, dass es das A war, das unberechtigterweise eine Stellung besaß, die ihm nicht gebührte. So beschloss das O diesem unhaltbaren Zustand ein Ende zu setzen. Da es außerdem impulsiv veranlagt war, verfasste es, ohne sich durch Absprachen mit anderen Buchstaben abzusichern, eine Resolution. In dieser legte es unter Anfügung semantischer, etymologischer, sprachhistorischer und metaanalytischer Beweise dar, in welcher Weise seine Bedeutung verkannt und seine Stellung durch das A missachtet wurde. Die Resolution gipfelte in folgenden Forderungen:

1.    Das A hat sowohl als Anlaut als auch als Inlaut ohne Berechtigung Wörter besetzt. Diese willkürliche Okkupation muss rückgängig gemacht werden. Das O legt als Anlage eine Liste solcher Wörter vor und fordert, die entsprechenden As durch Os zu ersetzen.

2.    Die Stellung des A an erster Stelle des Alphabets ist ebenso unbegründet wie falsch und stellt eine Diskriminierung des O dar, welche seine wahre Bedeutung negiert. Das A ist deshalb mit dem O zu vertauschen.

Mit dieser Resolution löste das O unter den Buchstaben einen Sturm der Entrüstung aus. Der VdVB , der „Verband der vereinigten Buchstaben“, von dem man allerdings jahrelang nichts mehr vernommen hatte, wurde wiederbelebt und lehnte die Forderungen des O in Bausch und Bogen ab. Er forderte das O unmissverständlich auf, von seinen, wie er schrieb „üblen, völlig unbegründeten, partikularistischen und imperialistischen Forderungen für alle Zeiten ausdrücklich Abstand zu nehmen“. Gleichzeitig rief er zur Einheit unter den Buchstaben auf und appellierte an die vokalistischen Großmächte E, I und U mit all ihren Möglichkeiten einzuschreiten. Dieses dringende Ansuchen war umso notwendiger, als sich die Vokale bisher mehr durch gegenseitige Sticheleien und eher durch Arroganz gegenüber den minderen mitlautenden Brüdern und Schwestern hervorgetan hatten denn durch Solidarität oder ausgleichende Politik.

Und so war es nicht erstaunlich, dass die Reaktion der Vokale in der Tendenz zwar ablehnend, in der Konsequenz aber unentschieden und in der Diktion durchaus unterschiedlich ausfiel. Am schärfsten reagierte das puristische I, das für seine undiplomatische Art und Neigung zu starken Worten berühmt und berüchtigt war. Unter anderem hieß es in seiner Entgegnung – und dies lag nun wirklich unter der Gürtellinie - „Es stünde dem vollgefressenen O besser an, sich eher zu verschlanken, als sich weiter aufzublähen, da sonst die Gefahr besteht, dass es platzt und ganz verschwindet, was im Übrigen kein Unglück wäre.“ Das U antwortete etwas diplomatischer: „Mit Verwunderung habe ich den Unmut des O vernommen sich auf unangemessene Wortumfangsberücksichtigung und ungerechte Unterdrückung berufend. Es ist mir unmöglich, die Unterstellungen des O zu unterstützen und rufe dieses unumwunden auf, die buchstäbliche Ruhe nicht unbedacht zu untergraben und alle Ursurpationsabsichten zu unterlassen.“ Das E wiederum reagierte gar nicht. Es stand auf Grund seiner Stellung als häufigst gebrauchter Buchstabe erhaben über den Ambitionen kleinkarierter Karriereristen. Interessanterweise reagierte das am meisten betroffene A, das für seine satirische Ader bekannt war, nur in folgender Kurzform: „arrogant, albern, abstrus, abartig.“

 

Damit schien das Ansinnen des O aussichtslos. Dieses jedoch dachte nicht daran, sich zufrieden zu geben und beschloss, mit terroristischen Mitteln seiner Sache Nachdruck zu verleihen. Dazu bedurfte es aber Helfershelfern. Und so begann das O konspirative Gespräche mit Konsonanten auf bialphabetischer Ebene zu führen und zwar mit solchen, die schon durch ihr Aussehen die Verwandtschaft zum O nicht verleugnen konnten, auch wenn sie vom O bisher nur geringschätzig betrachtet und ebenso behandelt worden waren. Es trat an B, D, C, G, S, P, und Q heran mit dem Ziel, es bei seinem Kampf gegen das A zu unterstützen. Es versprach ihnen, im Zuge der eigenen Bedeutungszunahme auch ihre Stellung zu verstärken, indem es z.B. die weichen gegen harten Laute wie das T oder das K auszutauschen bestrebt sein würde. Die Verhandlungen waren erfolgreich – nur das P, durch frühere Gemeinheiten des alphabetischen Nachbarn gewarnt, vermutete zu Recht, dass es wohl gegen das B ins Hintertreffen geraten würde. Das Q machte geltend, dass es durch seine zwangsläufige Verbindung mit dem U wohl in Loyalitätskonflikte kommen würde.

 

Und so kam es, dass eines schönen Tages im Miesbacher Merkur die Überschrift auftauchte:

„Dochbrond im Hallenbod“. Redakteur, Lektor und Setzer versicherten das Zustandekommen dieses Sprachverstoßes sei ihnen absolut unerklärlich. In Wirklichkeit hatten B und D mit vereinten Kräften ein erstes Mal zugeschlagen und das a zwischen ihnen hinausgedrängt und durch ein o ersetzt.

In den folgenden Monaten häuften sich in Zeitungen und Illustrierten, auf Plakaten und Anzeigen, auf Prospekten und im Internet seltsame Wortungetüme wie: „Dodort, Glommer, Fahrrod, Flochdoch, Gonsbrodn“, um nur einige wenige zu nennen.

„Wir werden es ihnen zeigen! Tod dem A!“ schrie das O siegessicher.

 

Doch ließ die Reaktion nicht lange auf sich warten. Auf Betreiben des I fand eine Sitzung des VdVB statt, zu der auch die anderen Selbstlaute eingeladen wurden – das E hielt sich weiter vornehm zurück, die Umlaute erklärten sich aus diesem Grund für befangen. Auf dieser Konferenz ging man mit den abtrünnigen Mitlauten hart ins Gericht und auf Betreiben der Vokale schloss man B, C, D, C , G und S schon zu Beginn der Sitzung vom VdVB aus. So bekamen diese auch nicht mit, was man auf dieser Konferenz beschlossen hatte. Die Mitlaute, die sich ich nicht der Revolte angeschlossen hatten, wurden ermächtigt, das O nun ihrerseits in die Zange zu nehmen und – wo immer dies möglich war – durch ein A oder U zu ersetzen. Das C sollte von K und H aus seiner Nachbarschaft entfernt werden. Damit war eine Eskalation erreicht, die zu chaotischen Verhältnissen führte. In jedem Text spielten sich nun verlustreiche Gefechte zwischen dem O und seinen Verbündeten und der Entente aus den Volkalen A, I und U und dem VdVB ab, die Kollateralschäden nahmen beachtliche Ausmaße an. So erschien ein Text, der sich unter dem Titel: „Was ist mit unseren Buchstaben los?“ mit diesem Phänomen beschäftigten wollte, in folgender Form.

 

„Wos ist mit unserer Buhsdoben los?“

Seit Wohen sind in dexden allüberall seldsome Phänumene zu beubohten. Obwuhl alle dexdshaffenden bis an den Rand der Ershöpfung an ihren Dexden feilen , gelingd es duh niht, diese in die Furm zu bringen, die das Lesen reibungslos ermöglichen. Es sheind fost, als hätten sich die Buhsduben selbsdsdändig gemoht – vor allem die Vakale scheinen einem Wehselpruzess zu unterliegen, der niht mehr zu kantrullieren ist.

 

An allen Wörterfronten wurde nun erbittert gekämpft, Pardon wurde nicht mehr gegeben. Angesichts dieses totalen Krieges beschloss das E endlich einzugreifen. Es versandte eine Resolution an alle Konfliktbeteiligten mit der Mahnung, die Gefechte zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Es bot sich selbst als Vermittler an, nicht ohne geflissentlich darauf hinzuweisen, dass man sich sonst zum Eingreifen gezwungen sehen könnte. Der ausgehandelte Waffenstillstand hielt gerade zwei Tage, dann begannen die Kämpfe von Neuem. Folgender Anschlag des Journalistenverbandes war daraufhin allüberall zu lesen, falls es jemandem möglich war, ihn zu entschlüsseln:

 

„Midbürgr und Midbürgrinnn, di ihr di Sproh libd und auf Dxd angwisn sid!

s shind sa, als würd unsr wichdigsds Guldurgut, di Shrifd , von unbkonndn Mähdn bis zur Ungnntnlihgid vrstümmld. Wi s shind, sind wir wider auf di mündlih Kammunikadiun und andr Furmn der Nohrihdnübrdrogung angwisn. Lossd uns disr Gfahr ins Aug blign und di shrifdlichn Übrmiddlang sprohlihr Ard insdlln!“

 

Das E hatte zu seiner schärfsten Waffe gegriffen und sich aus der gesamten Schriftsprache zurückgezogen. Damit wurde die schriftliche Kommunikation zu einem Dechiffrierungsprozess, wenn nicht sowieso unmöglich, gemacht. Die Apokalypse drohte: Das Alphabet war in Gefahr nicht mehr gebraucht zu werden und in den Abgründen der Geschichte zu versinken. Die Verbündeten des O, also B, D, C, G, S - schon vor Eingreifen des E in einer trostlosen Lage - kündigten dem O die Unterstützung auf und baten um Wiederaufnahme in den VdVB. Eine Delegation desselben machte sich auf, um die Großmacht E erneut um Vermittlung zu bitten und darum, den eigenen Boykott einzustellen.

Das E. machte kurzen Prozess: Es stellte dem O das Ultimatum, sofort alle kriegerischen Handlungen zu beenden und zu den früheren Verhältnissen zurückzukehren oder aus dem Alphabet zu verschwinden – man käme gut ohne es zurecht, seine Funktionen könnten reibungslos von den anderen Vokalen übernommen werden.

 

Dem O blieb nichts übrig als klein beizugeben. So konnte der vorstehende Kriegsbericht in der gewohnten sprachlichen Form erfulgen – Entschuldigung, erfolgen.